Wie`s uns nach dem Schulausstieg so geht……
Im Juni 2010 schrieb ich folgende Info an unsere Freunde:
Liebe Freunde,
wir ziehen im Sommer nach Frankreich! …und nehmen uns eine mehrjährige Auszeit, um zu einem ruhigeren und einfacheren Leben zu finden.
Mitten in einem idyllischen Wald in den Südvogesen haben wir ein Häuschen gefunden, in welchem wir selbstbestimmtes Leben und Lernen nach eigenem Rhythmus verwirklichen wollen.
Nun ist es der 24.10.2010 und schreiben und berichten wollen wir schon lange – jetzt endlich setze ich mich mal dran…..
Noch recht jung ist unser Neustart in Frankreich und unser alternatives Leben, fernab von täglichem Straßenverkehr, Schulalltag und Berufsroutine (bei mir jedenfalls, Richard arbeitet nach wie vor in Freiburg) Viel gäbe es zu erzählen, aber ich werde mich knapp fassen und dann im Anhang ausführlicher erzählen, für die, die gerne und viel lesen….
Wir leben und lernen oberhalb von Ternuay, einem winzigen Örtchen in den Vogesen, hoch oben auf einem Berg, mitten im Wald. Unser Häuschen ist nicht groß, aber uralt, gemütlich und weinumrankt. Umgeben von Wiese, See und Wald, grenzt ein Hirschgehege an, in welchem unsere Damhirsche ihr Unwesen treiben. Seit kurzem beherbergt es auch unseren Zirkuswagen, den wir renoviert und zu einer „École“ ausgestattet haben.
Wir haben uns vom ersten Tag an wohl gefühlt und trotz der sehr reduzierten Ausstattung, keine Anpassungsschwierigkeiten an das „einfache Leben“ gehabt. Besonders Simon und Hanna sind erstaunlich offen mit den neuen Verhältnissen umgegangen und haben bis jetzt noch nicht geäußert, dass sie die bisherigen Annehmlichkeiten (fließend heißes Wasser, Zentralheizung, Fernseher, Computer, ihr Spielzeug) vermissen. Im Vorfeld hatte ich so einige Befürchtungen gehabt, wollte es aber darauf ankommen zu lassen und bewusst reduziert beginnen. So haben wir nur Bücher und nur Schleich-Tiere aus Freiburg mitgenommen. Das für mich wichtige Internet werden wir erst in den nächsten Monaten bekommen. Persönlich vermisse ich im Moment nur meine Waschmaschine… J
Anfangs war der Kampf mit der französischen Bürokratie ein ziemlich beherrschendes Thema und ich hätte mir gewünscht, dass ich das im Vorfeld hätte organisieren können. Jeder, der als Ausländer schon mal versucht hat, in Frankreich ein Konto zu eröffnen, weiß, dass es sich dabei um ein gänzlich irrsinniges Unterfangen handelt, geeignet, jeden friedlichen Menschen zum Werwolf werden zu lassen. Es passierte, dass das Telefon einfach abgeschaltet wurde, weil die Rechnung nicht bezahlt wurde. Die wurde nicht bezahlt, weil wir keine erhalten hatten. Als wir sie dann schließlich nach Wochen erhielten, brauchte ich ein Konto, hatte aber noch keines, weil ein Nachweis vom Finanzamt (!) fehlte, das aber wiederum einen Nachweis von einem Bankkonto brauchte und außerdem, meine schriftliche Anmeldung als „Résident“. Nun existiert aber gar kein Formular, welches mir die Anmeldung bestätigt und auch mein fünfter Besuch beim Bürgeramt half nicht viel. Ich war zwar als „Résident“ angemeldet und erfasst, erhielt aber keinen Wisch, um das zu beweisen. Es scheint den Fall des Zuzugs von neuen Bewohnern in den Vogesen schlichtweg nicht zu geben. Schließlich ließ sich die Sekretärin des Bürgermeisters nach einigem Zureden und einer Pralinenschachtel als Bestechungsgeschenk darauf ein, für mich ein eigens formuliertes Schreiben aufzusetzen, dass bestätigte, dass ich nun Bürgerin des Dorfes Ternuay sei. Daraufhin war die Bahn frei für mich, ein Konto zu eröffnen und sogar eine EC-Karte zu bekommen (!), die ich hoffentlich bald benutzen kann, denn mir fehlt noch die PIN. Sollte eigentlich nach 5 Tagen nachgeschickt werden, aber nun sind schon 14 Tage vergangen….. ich lerne Geduld.
Da geschah was richtig skuriles: ich bekam tatsächlich 3 Tage nach Erhalt der EC-Karte einen Brief von der Bank mit einem „Code Personel“, der war 6-stellig. Naja, dachte ich, schon komisch, aber Franzosen sind ja immer etwas individueller, vielleicht haben sie ja tatsächlich 6-stellige PINS. Ich lernte also diese Nummer und damit ich sie mir besonders gut merken kann, sang ich sie mir als Tonfolge ins Gedächtnis. Ging tags darauf in den Laden, (und das tue ich nur, wenn ich etwas absolut dringend brauche), und tippte meine neue 6-stellige PIN ein. Als der erste Versuch mit einem „Code Faux“ endete, geriet ich etwas in Schwitzen und summte mir vor den belustigten Augen des Verkäufers und anderer Kunden den Code vor. Wieder nix. Er sagte beiläufig, wenn ich ein drittes Mal einen falschen Code eingeben würde, wäre die Karte auf Nimmerwiedersehen fort. Außerdem, was ich da eintippe, könnte gar nicht funktionieren, denn einen 6-stelligen Code gäbe es nicht. Wutschnaubend raste ich zur Bank, es war zwei Minuten vor Zwölf. Und Punkt „Midi“ klappen die Franzosen ihre Rolläden runter, da hilft GAR nichts. Ich befand ich mich nun in einer echten Pattsituation: meine deutsche EC-Karte hatte ich beim letzten Tanken im französischen Tankautomat vergessen (das erste Mal, ich schwör`s!), ich hatte sie daraufhin sperren lassen, und meine französische Karte war definitiv ohne PIN (noch) nichts wert. Ich stand also schwitzend vor dieser Bank und obwohl es noch nicht ganz Punkt Zwölf war, hatte sie schon zu. Mittagspausen in Frankreich sind in der Regel 3-4 Stunden lang, zwischen 12:00 und 16:00 Uhr braucht man sich nicht aus dem Haus zu bemühen, um irgendwelche Besorgungen zu machen. Ja, okay, hat auch was, entschleunigt ganz schön. In diesem Augenblick fehlte mir jedoch gänzlich der positive Aspekt der Entschleunigung und äußerst schlecht gelaunt (und ja, ich habe auch ziemlich un-nettes, politisch unkorrektes Vokabular von mir gegeben) fuhr ich die 10 km nach Hause zurück. Um es kurz zu machen: meine franz. PIN habe ich noch immer nicht, zwischenzeitlich ist aber zumindest meine neue deutsche Karte samt PIN da. Okay, denke ich im Nachhinein, du musst dich umstellen, es läuft alles etwas anders und nicht in dem gewohnten Tempo, hat schließlich auch was. Was ich übrigens auswendig singen konnte, war meine Internet-Zugangs-PIN, ist ja toll, dass die wenigstens früher da ist, werde sie zwar erst in einigen Monaten brauchen (wenn alles gut geht….), aber immerhin, es ist ein durchaus tröstliches Gefühl.
Hochmotiviert und freudig betreiben Simon und Hanna ihre Heimschule. Sie gestalten ihr Lernen weitgehend selber und mit großem Ernst und Eifer. Mir ist da manchmal ein bisschen zu viel Eifer dabei, ich hätte mir gewünscht, erst mal eine halbjährige Eingewöhnungszeit ohne Schulbücher und Klassenarbeiten zu verbringen, aber da sie ihre neuen Schulmaterialien schon in den Sommerferien erhalten hatten, brannten sie darauf, anzufangen. Hatten sie anfangs ohne Stundenplan gelernt, so verlangten sie nach zwei Wochen nach einem Plan. Sie fänden es anstrengend, sich täglich neu entscheiden zu müssen. Also erstellten wir gemeinsam einen Stundenplan, an dem sie sich seither orientieren. Ich versuche ihnen immer wieder Freiheiten einzuräumen, aber sie möchten gerne feste Strukturen. Als ich z.B. mal sagte, wir könnten eine Reise nach Paris planen und dann evtl. etwas länger bleiben, sagte Simon entschieden: „Also, Mama, du brauchst jetzt nicht zu denken, dass wir immer Ferien machen möchten! Ich will meine Schule machen!“ Olala, dachte ich, die legen ja ein ganz schönes Tempo vor. Mich selber bringt das nicht selten in Bedrängnis, denn es gibt im und am Haus noch so Einiges zu tun, und auch Handwerker sind noch manchmal da, sodass ich dann einfach sagen muss: Schule fällt heute mal aus, es geht nicht anders. Dann müssen alle anpacken und machen, was ansteht.
So z.B., als ich vor zwei Wochen Morgens in aller Frühe fünf unserer Hirsche außerhalb des Geheges um den See rumspazieren sah. Mir fiel das Herz in die Hose. Wie konnte das nur passiert sein? Kinder wecken, Strategien überlegen, Gehege absuchen. Aha, da war Nachts ein Baum auf den Hirschgehege-Zaun gefallen und hatte ihn so tief runtergedrückt, dass die Biester einfach rausgehüpft sind. Also, was tun… erst mal Hirschverhalten studieren, Futter ausstreuen, locken, die noch eingeschlossenen zehn Hirsche in das Reserve-Gehege jagen, damit ich das Hauptgehege für die Ausreißer öffnen kann. Zaun aufschneiden…..warten, hoffen. Es ist gerade Jagdzeit in Frankreich und ringsumher sind Jäger mit bösen Gewehren und scharfen Hunden unterwegs… Alleine die Aktion, die verbliebenen zehn Hirsche in ihr bekanntes Reserve-Revier zu kriegen, lehrte die Kinder so Einiges über Mut und Entschlossenheit. Es ist durchaus nicht so, dass Hirsche durch ein geöffnetes und ihnen wohlbekanntes Tor rennen. Auch dann nicht, wenn man sie treibt. Die Aktion dauerte ca. 4 Stunden, weil sie immer wieder am offenen Tor vorbei sausten und wir zu dritt keinen Ring bilden konnten, der sie zusammentrieb. Die Kinder brachten gewaltigen Mut auf, sich den galoppierenden Hirschen (mit Riesengeweih) entgegen zu stellen. Wenn so ein zehnjähriger Steppke und eine kleine Achtjährige sich mit ausgebreiteten Armen vor einen rasenden Hirsch stellen, mag er das zwar nicht besonders beeindruckend finden, aber diese Tiere sind so sensibel, dass sie niemals ein Kind umrennen würden.
Schließlich waren sie alle dort, wo sie hinsollten und wir schnitten eine Stelle im Hauptgehege auf und legten von außen nach innen eine Futterspur aus. Unter den Flüchtigen befanden sich drei Mütter, die ihre Neugeborenen im Gehege zurückgelassen hatten und so hofften wir, dass sie bald zurückkämen. Nach drei Tagen waren drei wieder zurück, aber nur eine Mutter, die anderen Beiden kamen leider bis heute nicht… LDas Gehege musste ich wieder zumachen, denn die Wildschweine kamen rein. Wir hoffen sehr, dass die Beiden nicht von den Jägern erschossen werden.
Meine früheren Befürchtungen und Überlegungen bezgl. Lernmotivation der Kinder sind dabei, sich in nebelgraue Schwaden auf zu lösen. Ich beobachte erstaunt und unheimlich beeindruckt, dass alles, was ich bisher in Büchern über selbstbestimmtes und freies Lernen gelesen hatte, sich tatsächlich so verhält. Ich lerne dabei sehr viel. Ich lerne, meine Kinder loszulassen, im Vertrauen, dass jeder Mensch tatsächlich einen tiefen intrinsischen Wunsch und ein Bedürfnis hat, sich weiter zu entwickeln, zu lernen, zu forschen, sein Weltwissen und seine Erfahrung zu erweitern. Fragen wie: „Wie bringt man Kinder zum Lernen, wenn mal die feste Schulstruktur wegfällt? Wenn der Lehrer als Autoritätsfigur nicht da ist? Wie attraktiv ist das Schulbuch in der großen Freiheit?“, beschäftigen mich nicht mehr. Kann sein, dass der Durchhänger demnächst kommt, wenn die Euphorie des Anfangs etwas verpufft ist, aber ich habe das Vertrauen, dass sie in dieser ersten Zeit schon soviel positive Erfahrungen mit den neuen Büchern und dem selbstständigen Lernen gemacht haben, dass es sie trotzdem weiter tragen wird.
Unser Alltag gestaltet sich aus archaischen Tätigkeiten wie Holzhacken (Simon tägl. 1 Std), Hirsche füttern und zähmen (beide tägl. eine halbe Stunde), Feuer machen und überwachen in Küche, Wohnzimmer, Zirkuswagen (alle), kochen über dem Feuer (alle), Geschirr spülen, Fußböden fegen und wischen (alle), Pilze sammeln und bestimmen (alle), Gehege kontrollieren, Zulauf der eigenen Quellen nach starken Regenfällen frei schaufeln,……. Schnee schippen im Winter, Waldtiere füttern……
Aus unserem Küchenfenster sehen wir direkt in einen wunderbaren Nadelwald. Hundert Meter weiter beginnt ein Buchenwald. Neulich haben wir eine 9km Wanderung um 20 Seen gemacht, wir leben ja im „Mille-Etang“, (1000-Seen-Gebiet) und die Bewegung, die wir bei den tägl. Arbeiten, Mountainbiken und Wanderungen haben, erübrigt Fragen nach „Sportunterricht“. Trotzdem werden die Kinder irgendwann in einen franz. Sportverein eintreten, im Moment überlegen wir das Reiten.
Wir erleben und spüren, wie Gott uns führt und obwohl Dinge passieren, die geeignet wären, uns zu entmutigen, haben wir alle doch das Vertrauen, dass dieses der richtige Weg für uns ist.
Seit Neuestem habe ich sogar ein Klavier und ich bemerke erstaunt, dass sogar das Musizieren mit den Kindern hier leichter geht, als früher in Freiburg.
Sehr gespannt erwarten wir den Winter, der immer sehr schneereich und eiskalt sein soll.
Einiges, was wir uns vorgenommen haben, haben wir noch nicht geschafft, so z.B. steht unsere Werkstatt noch nicht, und unser Gästehäuschen auch nicht. Das wird auf das Frühjahr warten müssen.
Man kann uns aber trotzdem besuchen, wir haben ein Gästezimmer und wer mal ein paar Tage ohne heiße Dusche auskommt, kann auch gerne länger bleiben. (wir duschen zwar und auch recht warm, aber unter einem fingerdünnen Rinnsal- für Gäste eine Zumutung. Im Frühjahr kommt dann endlich die Druckpumpe)
Ich lerne täglich neu, mit der ständigen Gegenwart der Kinder zu leben, denn wir sind ja rund um die Uhr zusammen, teilen alles miteinander und setzen uns viel intensiver auseinander. Ich werde weicher und geduldiger, bin meinen Kindern näher und lerne, mich besser in sie hinein zu fühlen. Ich glaube, ich bin diejenige, die hier am meisten lernt.
Simon und Hanna sind verantwortungsbewusster geworden, sie packen mit an. Es kommt zu meinem großen Erstaunen vor, dass sie selbstständig zu putzen anfangen, Feuer machen…. ohne, dass ich sie dazu aufgefordert hätte.
Sie haben schon gute Kontakte zu den franz. Nachbarskindern und zu einem Schweizer Kind.
Alles in allem sind wir sehr dankbar und freuen uns, diese Freiheit zu haben.
Über euren Besuch freuen uns!
Liebe Grüße,
eure
Eva