Ich blicke hinaus in den nebelgrauen Wald, sehe den Wind, wie er die Bäume biegt und schüttelt und lausche dem Trommeln des Regens. Kalt ist es draußen, das Thermometer zeigt knapp 5 Grad, doch hier im Zirkuswagen fühlen wir uns wohlig warm, der Ofen knistert, die Kinder arbeiten still an ihren Schulaufgaben. Auf Simons Schreibtisch schläft ein kleines Kätzchen und es ist so gemütlich, fast könnte man meinen, jetzt schneit es bald und dann ist Weihnachten. Wäre nicht draußen eben ein junger Fuchs vorbei gehuscht und würden nicht die leuchtenden Tannenspitzen, die zarten hellen Buchenblätter und die kleinen Büschel von jungen Eschenblättern ein vielfarbig-grünes Bild vor unseren Fenstern malen…. Ein sanfter grüner Schimmer liegt über der Natur und wir erinnern uns: „Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus“.
Ach, stimmt, wir haben ja Mai….
Das Wetter fährt Achterbahn. Vor ein paar Tagen fühlten wir uns wie im Juli, die Luft flimmerte heiß, die Kinder planschten im See und ich geriet mit der Harke ganz schön ins Schwitzen. Und gestern, da waren wir reiten, wurden dreimal nass geregnet, von der Sonne wieder getrocknet, schwitzten und froren abwechselnd, ja gestern, da hatten wir April. Die Eisheiligen kommen und gehen in diesem Jahr, wie es ihnen beliebt und draußen kann man schwerlich etwas unternehmen. Ach, plötzlich scheint die Sonne und das Gras dampft!
Jetzt haben wir schon Juli…. ich bin echt langsam mit dem Schreiben… es regnet und regnet, nun schon seit Tagen, wie an Schnüren. Habe heute früh notfallmäßig die Regenrinnen vom Laub befreit, richtige Wasserfälle stürzten seitlich herab und kaum wurde die Haustür aufgemacht, kam, schwapp ein Guss ins Haus.
Bei diesem schlechtem Wetter fühle ich mich oft an den vergangenen Winter erinnert. Mal nass, mal gefroren, mal schneereich, dann wieder sonnig, aber immer unberechenbar, so war er gewesen. Wir hatten ganz schön zu kämpfen mit den Launen der Natur und tappten zusätzlich noch in die Fallen unserer Unerfahrenheit. Das Bauen ist zwar weitgehend beendet, aber das vergangene Frühjahr hatte es trotzdem in sich. Wir haben ständig gemerkt, dass wir auch nach zwei Jahren Landleben immer noch „Cityslickers“ sind, die das Leben in der Natur nur langsam begreifen. Was haben wir nicht alles falsch gemacht!
Im Dezember, bemerkten wir, dass der See (eigentlich ist es ein Teich, weil er einen Mönch, d.h. einen Ablauf hat)konstant und mit Besorgnis erregender Geschwindigkeit Wasser verliert. Huch, etwa Bisamratten? Oder unterirdische Löcher? Schon nach zwei Tagen war der See halb leer! Wir stopften Sägemehl, Hirschdung, Erde in den Ablauf des Mönches, so wie der Vorbesitzer uns geraten hatte, sollte dieser Fall einmal eintreten. Dann regulierten Simon und Hanna den Zulauf am Bach so, dass mehr Wasser in den See fließen konnte. Das Wasser aus dem Bach wird durch ein Rohr in einen großen Bottich geleitet und läuft dann von dort in den See. Mittels dieses Rohres kann man immer genau sehen, wie viel Wasser gerade in den See läuft. Wir erhöhten also die Menge des zulaufenden Wassers, und nach ein paar Tagen stieg der Wasserpegel im See langsam an…. Doch dann mussten wir für ein paar Tage nach Freiburg.
Als wir wieder kamen, war es abends und schon stockdunkel. Ich parkte, tastete nach der Taschenlampe und fand sie nicht an ihrem Platz im Auto. Das bedeutete, wir mussten in absoluter Finsternis den Weg, das Haus, das Türschloss finden. Als wir die Autotüren öffneten, riefen die Kinder: „Was ist das??? Hörst du das?“ Es rauschte. Und zwar gewaltig. Und um uns herum nichts als dunkle Nacht. „WASSER!“ Es klang wie eine Meeresbrandung. Aber hier im Wald?? Ich setzte, so schnell ich konnte, einen Fuß vor den anderen, stolperte und tastete mich vorwärts, aber die Kinder waren schneller, sie standen schon unten auf der Wiese und riefen: „Überschwemmung!“ Zittrig schlich ich über die Terrasse, mit jedem Schritt damit rechnend im Wasser zu stehen. Endlich war ich bei der Haustüre angelangt, tastete nach dem Schloss. Ich sah nichts und brauchte einige Minuten, bis ich den Schlüssel im Schloss hatte. Dann machte ich Licht und holte eine Taschenlampe aus dem Haus.
Unterhalb des Hauses liegt eine terrassenartige Wiese und dann noch weiter unten kommt der See. Die Wiese war im Schein der Taschenlampe zum Glück noch als solche erkennbar, aber sie war vollkommen nass und es quatschte bei jedem Schritt. Ich watete vorwärts und sah, lange bevor ich den Bottich erreicht hatte, den dicken Strahl, der aus dem Zulaufrohr schoss. Das Rohr hat einen Durchmesser von 120mm und das Wasser schoss durch den vollen Durchmesser des Rohres mit enormem Druck, und am anderen Ende des viereckigen Bottichs schoss es mit gleicher Kraft wieder heraus. Das also war das Rauschen. Um den Bottich herum hatte sich eine riesige Wassermenge ausgebreitet und der See war über die Ufer getreten und aus der Wiese war ein Sumpf geworden.
Prima, den Ablauf verstopft, den Zulauf verstärkt und dann ein paar Tage Ferien gemacht. Meine Dummheit allein hätte aber nicht ausgereicht, um es zu dieser Überschwemmung kommen zu lassen. Das Wetter hatte beschlossen uns zusätzlich ein Schnippchen zu schlagen. Just in unserer Abwesenheit war Tauwetter eingetreten und die Bäche waren zu reißenden Flüssen geworden.
Verdrossenreisten wir dannim Januarwieder nach Freiburg. Auszeit von der Wildnis, zurück in die bequeme Zivilisation ohne Sorgen um Tauwetter, Zulaufrohre und Überschwemmungen. Inzwischen waren frostige Zeiten gekommen, ich hielt es für ratsam, vor unserer Abreise die Wasserhähne im Haus zu entlüften und den Haupthahn zu schließen. Vor kurzem hatten wir eine Wasserdruckpumpe bekommen und der Installateur hatte mir erklärt, wie ich das Ding winterfest machen kann. Ich meinte, alles verstanden zu haben. Zwei Schrauben sollte ich zudrehen und eine aufdrehen, zum Entlüften. Nichts leichter als das.
Halb aus den Augenwinkeln sah ich bei der Abreise ein Stück unseres Elektrozaunes, der um das Hirschgehege läuft, an der Außenseite des Zaunes herunterhängen. Ich hielt an und band das Kabel am Zaun fest. Wir hatten an dieser Stelle den Zaun aufgeschnitten und durch ein Tor ersetzt. Nun war hier der Elektrozaun noch nicht wieder instand gesetzt, wir hatten es einfach noch nicht geschafft. Da der Strom aber abgeschaltet war, konnte meiner Meinung nach nichts passieren.
Nach ein paar Tagen erhielt ich in Freiburg einen aufgeregten Anruf unseres französischen Nachbarn, der die Hirsche versorgt. Er brüllte förmlich in den Hörer und redete so schnell und wirr, dass ich zunächst nur „getötet…. gefesselt…“ verstand. Dann, nach ein paar Minuten wurde mir alles klar: unsere beiden Hirsche hatten sich, wie so oft, ein Kämpfchen geliefert. Nur leider ausgerechnet an der Stelle, wo wir den Zaun aufgeschnitten hatten und ich das lose Ende verknotet hatte. (Leute, das Hirschgehege ist über1,5 ha groß! Wie wahrscheinlich ist es da, dass die zwei Raufböcke ausgerechnet auf diesem einencm, wo das verknotete Ende war, kämpfen??? Irrsinnig.)
Als ich nun spät abends den Telefonhörer in der Hand hielt und mit jedem hastigen Wort unseres Nachbarn den grausigen Hergang des Kampfes begriff, überkam mich ein unglaubliches Gefühl der Panik und Hilflosigkeit. Nach und nach wurde mir alles klar, vor allem aber mein eigener Anteil an diesem Unglück. Die beiden Hirsche hatten während des Kampfes mit ihren Geweihen das außen hängende und festgebundene Ende des Elektrodrahtes eingezogen und dazu noch ein ganzes Stück Draht aus dem Zaun mitgerissen. Unweigerlich verhedderten sie sich und verknoteten sich an den Köpfen miteinander. Voller Panik versuchte sich jeder zu befreien, sie fügten sich mit den Hufen und den Geweihen Blessuren zu, bis schließlich der Jüngere sein Genick brach.
Die Tragik war nun, dass der Ältere fest an den verendenden Jüngeren gebunden war. Er muss unglaublich gekämpft haben, um sich frei zu bekommen und als dann, erst nach zwei Tagen unser Nachbar Lionel zum Füttern kam und das ganze Elend entdeckte, befanden sich die Beiden immer noch gefesselten Tiere ca. 300m von der Stelle entfernt, wo der Kampf begonnen hatte. Welche verzweifelte Kraft muss der überlebende Hirsch aufgebracht haben, um den Toten (immerhin ca. 60 kg schwer) so weit allein mit seinem Kopf mit sich zu schleifen. Als der Nachbar sie fand, lag der Lebende blutend und röchelnd, völlig erschöpft neben dem Toten und konnte den Kopf nur in eine Richtung verdreht halten. Lionel wollte versuchen mit einer Drahtschere die Fesseln des Elektrozaunes zu lösen, aber er kam nicht an den Hirsch heran, er hatte immerhin noch soviel Kraft, dass er wild um sich stieß. Da lief Lionel nach Hause und rief mich an. WAS SOLLTE ER TUN? Ich war völlig sprachlos. Ja, was tun?
Da fiel mir ein deutscher Tierarzt ein, der dort in der Nähe seine Praxis hat. Es war jetzt zwar schon spät abends, aber dieses war ein echter Notfall. Er war bereit, raus zu fahren und das Tier zu betäuben. Bange Stunden des Wartens, dann ein Anruf unseres Nachbarn: als der Tierarzt sich dem Hirsch genähert hatte, kämpfte der so wild, dass er ganz alleine mit seinem Kopf den Draht durchriss und sich befreite.
Wir weinten heiße Tränen um den jüngeren Hirsch, unseren Liebling „Zucky“, der nur wegen unserer/meiner Torheit so unsinnig und grausam sterben musste. Er war unser erstes „Baby“ gewesen, das wir aufwachsen sahen, zudem der Zahmste, fraß aus der Hand und war uns auf Schritt und Tritt gefolgt.
So schnell wie möglich fuhren wir dann von Freiburg zum Ort des Geschehens. Es wurde eine schwere Fahrt, denn wir wussten, dass wir nur noch das Grab, welches der Nachbar für Zucky geschaufelt hatte, besichtigen würden. Mir persönlich fiel dieser Abschied sehr schwer, zu meinem tiefen Bedauern mischte sich der bittere Geschmack von Schuld und Versagen. Ich hatte Schuld auf mich geladen, indem ich zwar das Gute gewollt und versucht, aber nicht erreicht hatte. Ich hatte mir eingeredet, dass es ausreichen würde, das lockere Ende des Drahtes einfach fest zu binden und obwohl sich damals schon leise Zweifel regten und ich tief innen wusste, dass ein Risiko blieb, unterließ ich weitere Sicherheitsmaßnahmen – wohl aus Bequemlichkeit und Unerfahrenheit. Ich tat nicht, was ich eigentlich hätte tun müssen, und dann verdrängte ich mein leises Unbehagen.
Wie oft tun wir nicht bis in die letzte Konsequenz das, von dem wir eigentlich wissen, dass wir es tun sollten. Es macht uns schwach, wenn wir nicht handeln, wo wir eigentlich handeln sollten. Wenn wir es nicht schaffen, dieses oder jenes zu verändern, von dem wir wissen, dass wir es verändern sollten. In diesen Tagen begriff ich das Wort „Sünde“ neu: gegen sich selbst und gegen seine Überzeugung leben. Es ist nichts anderes, als die von Gott gegebene innere Stimme vernachlässigen und verkümmern lassen. Ja, durch meine Nachlässigkeit versündigte ich mich an diesem Tier, welches unschuldig sterben musste.
Doch lauerten noch weitere Überraschungen, als wir ankamen. Ich hatte ja vor Abreise die Wasserdruckpumpe fachfrauisch entlüftet und wollte sie nun wieder starten. Doch als ich den Raum betrat, stand ich im Wasser. Der Boden war ein eine einzige knöcheltiefe Wasserlache. Und aus der Pumpe tropfte es sachte, aber stetig. Great! Was hatte ich wohl falsch gemacht?
Als nächstes hörte ich die Kinder schreien: „Mama, komm schnell, der Tchibo hat sich wieder gefesselt.“ Das durfte doch nicht wahr sein!!!!
Derselbe Hirsch, der vor wenigen Tagen das Drama mit Zucky erlebt und überlebt hatte, war schon wieder in die Fänge des Elektrozaunes gelangt und hatte sich, diesmal alleine, selber gefesselt. Er hielt sein linkes Bein angewinkelt und hatte das Kabel mehrfach um seinen Bauch und das Bein gewickelt!
Da war jetzt irgendwie der Wurm drin. Ich hatte noch gar keine Gelegenheit gehabt, diesen Zaun zwischenzeitlich instand zu setzen und nun bereits das nächste Unglück! Er humpelte auf drei Beinen, war aber ansonsten fidel. Es wurde aber in den folgenden Tagen klar, dass wir nur eine einzige Alternative hatten: wir mussten ihn erlegen lassen. Um ihn aus seiner misslichen Lage zu befreien, hätte man ihn betäuben müssen und es wäre dann nicht sicher gewesen, ob er sein Bein je wieder benutzen könnte, denn es war anzunehmen, dass es gebrochen war. So brachte ich die Kinder wieder nach Freiburg zurück, rief meinen Vater um Hilfe und bestellte einen Jäger.
Das große Bedauern, etwas unterlassen oder versagt zu haben, überfiel mich immer wieder in diesen Tagen. Damals, als noch kein Unglück passiert war, hätte ich viele Gelegenheiten gehabt, den Zaun reparieren zu lassen, wenn ich erkannt hätte, dass das höchste Priorität hat. Aber es war mir damals nicht klar genug, dass ein kurzes Stückchen Zaunkabel zur tödlichen Falle werden könnte. Ich hatte es einfach nicht gewusst! Aber ich fühlte mich trotzdem schuldig, wohl weil ich ahnte, dass ich es hätte wissen müssen. Wenn man solche Tiere übernimmt, hat man die Verantwortung alles darüber zu wissen und zu erfahren, was nötig ist. Oft wollen wir den ersten Schritt gehen, z.B. etwas haben oder etwas erreichen oder etwas machen….. aber wir bedenken nicht den zweiten Schritt, dass wir nämlich die Verantwortung und alle Konsequenzen für den ersten Schritt tragen. Wie schmerzlich und wie oft muss ich daswohl noch lernen?
Gott hat mir bald darauf eine neue Chance gegeben, etwas an mir anvertrauten Tieren wieder gut zu machen. Zwar nicht an den beiden Hirschen, die mussten beide ihr Leben lassen, aber dafür durfte ich für zwei Katzen Verantwortung übernehmen. Sie stellten meine Entscheidung „unterlasse ich es, bin bequem oder tue ich es, auch wenn es mir gegen den Strich geht“?, auf eine harte Probe stellten.
Im Februar verließen unsere drei liebevoll gehätschelten Katzen, plötzlich unser Zuhause. Sie kehrten niemals wieder zurück. Möglicherweise fielen sie dem Marder, Fuchs oder Luchs zum Opfer, möglicherweise fühlten sie sich durch unsere häufige Abwesenheit einsam und suchten sich ein neues Zuhause. Wir waren untröstlich, hatten wir sie doch vor einem halben Jahr buchstäblich vor dem Verhungern gerettet und sie sehr ins Herz geschlossen. Mit Sorge beobachtete ich im Frühjahr den Vormarsch der Mäuse, sogar bis in unser Haus hinein, was bisher dank der Katzen nie der Fall gewesen war. Ich erinnerte mich mit Grauen zurück an meine Studienjahre in den USA, wo sich in meiner Wohnung jeden Morgen Hunderte von Mäusen wie ein schwarzer Schwarm auf meiner Küchentheke tummelten, um sich dann, sobald ich die Küche betrat, in alle Löcher der Küchenschränke zu verkriechen. Nein, daswollte ich verhindern, Katzen mussten schnellstens wieder her!!!
Ich wurde auf einem Bauernhof im Münstertal fündig und bekam Gina, 1 Jahr und Patty, 8 Wo. alt. Frohgemut zogen wir mit ihnen auf unsere Ferme. Und dann begann der blanke Horror. Alle 14 Tage hatten sie schweren Brechdurchfall. Ursache unklar. Dann wurde offensichtlich, dass Gina bereits trächtig gewesen war, als wir sie übernommen hatten. Ihr Bauch schwoll mächtig an, doch statt dem berühmten Trächtigkeits-Heißhunger, aß sie tagelang nichts und erbrach überall. Und ich putzte. Dann Totgeburt eines Frühchens, ich bringe sie in die Klinik, um wenigstens die anderen zu retten, dann nach 10 Tagen wieder zu Hause, ging das Spucken und Würgen wieder los… Irgendetwas stimmte nicht mit dieser Katze, doch keiner konnte raus finden sagen, was los war. Insgesamt sahen sie 5 Tierärzte. Als sie nach dem Klinikaufenthalt nach Hause kam, hieß es, jetzt noch 4-5 Tage, dann kommen die Jungen. Von wegen, sie erbrach wieder nur und legte sich fiebernd hin. Ich brachte sie zurück in die Klinik, da stellte der Veterinär im US fest, dass sie einen toten Fötus trug und binnen weniger Stunden mitsamt den noch lebenden Föten an Vergiftung sterben würde. Nun stand ich vor einer schwierigen Entscheidung. Dass ich mir einen Kaiserschnitt finanziell gar nicht leisten konnte, stand außer Frage, aber konnte ich mir andererseits leisten, mir selber und den Kindern zu erklären, dass ich Gina mitsamt den gesunden Babies habe sterben lassen? Oder sogar habe einschläfern lassen, weil mir alles zuviel und zu teuer geworden wäre? Wie hatten sie sich auf die Katzenbabies gefreut! Und dann dämmerte mir, dass dieses die zweite Chance war. Meine zweite Chance. Ich hatte die Möglichkeit etwas zu tun oder etwas zu unterlassen, um das Leben dieses mit anvertrauten Tieres zu erhalten. In Wirklichkeit hatte ich keine Wahl, wenn ich mich nicht schon wieder an einem hilflosen Tier versündigen wollte, für das ich ja die Verantwortung übernommen hatte. Der erste und der zweite Schritt…. Zähneknirschend gestand ich mir ein, dass mein reines Gewissen entschieden mehr wert sei, als die läppischen Kosten eines Kaiserschnittes.
Gina wurde also per Sektio entbunden, vier Welpen lebten noch. Wir bekamen alle gleich mit nach Hause, nass und kalt und winzig. Gina nahm die Kleinen nicht an. Zwei harte Nächte mit Rotlicht, Massagen, Aufzuchtmilch, viele Gebete und dann endlich, als ich schon eine richtige Wut auf sie bekam und ihr die Kleinen überall anlegte, ließ sie sie endlich saugen. Natürlich geschah das nicht in der Wurfkiste, und auf keinen Fall so, wie es im Buche steht….. nein, es musste das Bett von Hanna sein. Aber was waren wir froh….. und dankten Gott. Leider verstarb ein Junges in den nächsten Tagen, aber drei sind noch quicklebendig und wachsen beachtlich schnell. Bei insgesamt 5 Katzen mache ich mir um Mäuse in Zukunft keine Sorgen mehr. Und ich habe alles getan.
Zurück zum Februar: da schlug uns das Wetter ein richtig fieses Schnippchen. Wir waren wieder mal kurz nach Freiburg gefahren und bevor wir wollten, rief ich unsere franz. Nachbarn an, um uns anzumelden. Wir würden spät abends ankommen und da unser Zufahrtsweg eng an ihrem Haus vorbei führt und hier auf dem Berg abends niemand mehr rum fährt, wollte ich sie vorwarnen. Stattdessen warnten sie mich vor, nämlich vor dem Frostwetter, das inzwischen eingesetzt hatte. Und tatsächlich, ohne den Subaru hätte ich den Berg nicht erklimmen können. Doch kurz nachdem ich an dem Nachbarhaus über dicke Schneewehen und vereiste Kuppen vorbei gekrochen war, stockte mein Atem: vor mir breitete sich eine spiegelglatte Eisfläche über die Breite des ganzen Weges und über eine Länge von ca. 200m aus! Links und rechts keine Chance auszuweichen, da die Bäume bis an den Wegesrand standen. Der Weg führte leicht abschüssig und mir war klar, dass das Tauwetter, welches noch vor einer Woche hier geherrscht hatte, den Weg zu einem breiten Bach gemacht hatte, der bei dem plötzlichen Frost zu einer unbezwingbaren Eisfläche gefroren war. Die Kinder stiegen aus und fingen an johlend auf dem Eis zu rutschen. Für uns Erwachsene beschämend, diese wunderbare Fähigkeit von Kindern in allen Lebenslagen das schönste Spiel zu sehen!
Für sie die reinste Gaudi, für mich der Horror. Was tun? Es war kurz vor 21:00 Uhr, das Nachbarhaus lag dunkel und still, meine Taschenlampe hatte nach wenigen Minuten keinen Saft mehr und wir hatten nur zwei Möglichkeiten: den Wagen stehen lassen und zu Fuß durch den finsteren Wald stapfen. Doch ich brauchte für die Nacht das Gepäck aus dem Auto, Schlafsäcke, Bettwäsche, die ich vorsorglich mitgenommen hatte, denn im Haus würde es jetzt etwa 0 Grad haben, wer möchte da schon in klamme, vereiste Bettdecken steigen. Außerdem war es nicht ungefährlich, im Finsteren durch den Winterwald zu stapfen, und ehrlich gesagt, hatte ich auch Respekt vor Wölfen, die wir zwar noch nie gesehen haben, die es hier aber geben soll.
Und die Alternative? Schneeketten anbringen. Quelle horreur! Den Ernstfall hatte ich noch nie geprobt. Zwar hatte Richard mich in die Kunst der Schneeketten eingeführt und trocken, im Carport war es mir auch gelungen, sie anzulegen. Aber hier und jetzt? Mit klammen, zittrigen Fingern, bei -18 Grad, im Dunkeln und mit dem Wissen, es muss klappen? Und würden die überhaupt etwas nutzen oder würde ich mit ihnen in den nächsten Baum rutschen? Ich musste es zumindest versuchen. Ich ließ die Autoscheinwerfer an, wuchtete die Ketten aus dem Kofferraum und rief die Kinder: „Ich gehe jetzt zum Lionel, ich wecke die. Wir brauchen eine Taschenlampe.“ Hanna wollte nicht alleine bleiben, also nahm ich sie mit und Simon blieb beim Auto. Nach langem Klingeln und als niemand öffnete, wummerte ich schließlich an die Fensterläden und endlich kam Rose im Nachgewand, verschlafen und verschreckt. Sie gab mir eine Taschenlampe. Ich hatte ja gehofft, dass Lionel mir helfen würde, aber der schnarchte schon tief und fest…… Als ich zurückkam, kniete Simon mit einer Schneekette im Scheinwerferlicht vor dem Auto und legte sie sich auf dem verschneiten Boden zurecht. „Komm, Simon, das haben wir noch nie wirklich gemacht, wir müssen uns den Plan ansehen, ich habe eine Taschenlampe.“ „Aber die eine Kette ist schon drauf, die andere habe ich auch gleich!!!“ Da staunte ich nicht schlecht, wie er nachts im Wald ganz allein und vollkommen ruhig Schneeketten aufzog. Ohne Licht, denn seitlich am Auto war es zappenduster….. Innerhalb weniger Minuten hatte er auch die andere Kette angebracht. Ich war richtig sprachlos und brachte nur hervor: „Hast du das schon mal gemacht?“ „Nö, aber ich hab mir den Plan angeguckt, ist ja eigentlich ganz logisch.“ „Aha…“ Ich weiß nicht, mit wie viel Küssen und Lobeshymnen ich den Armen überschüttete….. Die Ketten hielten bombig und ich fuhr im Schritttempo und ohne Probleme über das Eis. Was täte ich nur ohne die Kinder in der Wildnis?
Immer wieder werde ich gefragt, ob es mir nicht schwer fallen würde, so alleine zu sein und die Schule „durch zu ziehen“. Ja, es ist nicht einfach, aber ich habe ja zum Glück die Kinder… :-)) Oft wünsche ich, es wäre noch ein weiterer Erwachsener ständig dabei, mit dem ich alles besprechen und die tausend Dinge aufteilen könnte. Denn manchmal weiß ich z.B. nicht, wie ich entscheiden soll, manchmal fallen mir auf Fragen keine Antworten ein und manchmal könnte ich eine Ermutigung oder positives feedback gut gebrauchen.
Ob wir uns nicht gegenseitig auf den Wecker gehen. Nein, bis jetzt nicht. Wir verstehen uns viel besser. Sie sehen meine Baustellen und ich sehe ihre und wir helfen uns gegenseitig. Mit mehr Humor als früher, denn ich stehe nicht mehr so unter Strom, habe nur noch selten irgendwelche „Termine“. Außer, die Katze ist krank…..
Einerseits fühle ich mich manchmal alleine, andererseits hilft es, wenn man nur mit den Kindern ist, man ist völlig frei, fühlt sich nicht beobachtet und bewertet, muss sich nicht mit dem Partner oder anderen Erwachsenen auseinander setzen, sondern kann sich ganz auf sich und die Kinder konzentrieren. Insofern bin ich da ambivalent, was meine momentane Situation betrifft und bin auf jeden Fall sehr dankbar, diese wenigen Kindheitsjahre, die uns noch verbleiben, zusammen und intensiv mit ihnen verleben zu dürfen.
Als wir diesen Weg des Ausstiegs begannen, dachte ich, etwas Gutes für die Kinder zu tun, ihnen das zu bieten, was in meinen Augen das Beste schien. Dieser Meinung bin ich immer noch, aber ich habe festgestellt, dass iches eigentlich bin, die sich selbst etwas Gutes tut. Ich lerne soviel, ich erfahre Ungeahntes und werde jeden Tag reich beschenkt. Obwohl ich anfangs nicht in Hinsicht auf meine persönliche Entwicklung geplant hatte, bemerke ich nun, wie gut mir persönlich dieser Ausstieg tut. Ich bin so dankbar.
Gedanken über die Rolle der Eltern beim Lernen
Oft höre ich von anderen Eltern, wie bewundernswert es sei, überhaupt mit den Kindern zu lernen und was für eine riesengroße Geduld ich ja hätte. Doch das stimmt nicht, ich bin von meinen Anlagen her leider sehr ungeduldig. Aber wenn man einen Schritt in eine Veränderung tut, seine gewohnte Umgebung verlässt und etwas völlig Neues beginnt, lernt man zwangsläufig die dafür nötigen Fähigkeiten. Man erweitert sich und seine Sicht der Welt, man wird in gewisser Weise ein Mensch mit vorher ungeahnten Fähigkeiten. So lernte auch ich, etwas geduldiger zu sein und werde es weiter lernen müssen. Auch hilft diese Einsamkeit und die Auseinandersetzung mit den Naturgewalten.
Ich werde auch immer wieder gefragt, wie ich es schaffe, die Kinder zum Lernen zu bringen. Viele Eltern verzweifeln schon an den Hausaufgaben und wenn sie sich vorstellen, sie müssten den gesamten Schulstoff alleine mit ihren Kindern durchnehmen (und dann auch noch in versch. Klassen), ist das außerhalb jeder denkbaren Möglichkeit.
Ich will und kann keine Ratschläge geben, weil ich selber noch auf der Suche bin, warum etwas funktioniert oder nicht. Aber ich habe ein besseres Gespür bekommen, für das, was meine Kinder brauchen, um gut zu lernen.
Im Allgemeinen lautet bei heutigen Schulkindern die Frage leider: Spaß haben oder Lernen? Wenn man ihnen zuhört, dann impliziert schon das Wort „lernen“ etwas Schreckliches und bedeutet das genaue Gegenteil von „Spaß“. Aber in früheren Generationen war es nicht immer so und ich erlebe jetzt, dass es so auch nicht sein muss. Auch nicht, wenn die Kinder älter werden.
Im Gegensatz dazu ist bei ihren eigenen Kinderspielen dieser Widerwille gegen Lernen, Wiederholungen und Vertiefungen keineswegs vorhanden. Ganz im Gegenteil, es wird stunden,- und tagelang vertieft und vollkommen „im flow“ studiert, gelernt, wiederholt, seien es Rollenspiele oder Auf,- und Abbau von Landschaften oder Basteleien und Handwerkliches. Da kracht etwas mühevoll Erbautes zusammen, macht nix, sie fangen von vorne an. Tausende, unermüdliche Wiederholungen und dann heißt es auch noch: „Das macht so einen Spaß!!!“. Da scheint Erkenntnisse sammeln, Auswerten, Wiederholen eine tiefe Befriedigung zu geben. Die allerersten Entwicklungsschritte des kleinen Babies basieren ja auf nichts anderem als auf tausendfacher, lustvoller Wiederholung.
Wie schafft man eine „lustvolle“ Struktur, ohne dass sie monoton, langweilig und zwanghaft wird? Wie kann die Systematik und die manchmal stupiden und auf weite Strecken uninteressanten Lerninhalte so verpackt werden, dass sie als anregendes, gern gespieltes Spiel empfunden werden, mitsamt den notwendigen Wiederholungsvorgängen? Dass das Spiel intensives Lernen ist, ist bekannt. Aber wann ist Lernen für die Schule, also SchulstoffLust und Spiel? Für mich noch ein weites, spannendes Feld.
Unsere Kinder sind wie alle Kinder: neugierig und sie wollen ganz allgemein Neues lernen, aber so systematisch und chronologisch, wie es für das Schulwissen und die Tests erforderlich ist, würde sich kein Kind, auch unsere nicht, von ganz alleine neues Wissen aneignen. Weder würden sie Vokabeln lernen, noch vor einer Klassenarbeit den gesamten Stoff freiwillig wiederholen. Sie würden keine mühseligen Gliederungen schreiben und keine Matheaufgabe lösen, die von a)-g) geht. Sie würden keine Klausur vor Abgabe noch einmal detailliert überprüfen und sie würden von sich aus beim Geige- oder Celloüben keinen Takt solange wiederholen, bis er wirklich klappt.
Ich persönlich finde nur ansatzweise Antworten, doch ich beobachte: dieses machen die Kinder gerne und würden es tausend Mal wiederholen, jenes aber machen sie nicht so gern, und weigern sich, es auch nur einmal zu wiederholen, obwohl es weniger anstrengend ist und eigentlich ein Klacks.
Z.B. ein jüngster Vorfall: Simon sollte für den Kunstunterricht ein Selbstporträt anfertigen. Er mühte sich ab, war aber schon bald sehr frustriert und knüllte schließlich den Tränen nahe alles zusammen und schmiss seinen Versuch in den Mülleimer. Keine ermutigenden Worte konnten ihn veranlassen, noch einen weiteren Versuch zu unternehmen. Erst nach Wochen wagte er sich wieder dran.
Kurz darauf fand ich ihn stunden- und tagelang über Flugzeug- und Raumschiffskizzen brühten. Tief versenkt zeichnete er Versuch um Versuch, schmiss einiges weg, begann wieder von vorne, bis er schließlich zufrieden einen Stapel gesammelt hatte. Das waren keineswegs einfache Konstruktionen, für meine Begriffe sehr viel komplexer und schwieriger, als nur ein simples Gesicht abmalen, bei dem ja noch nicht einmal allzu große Ähnlichkeit mit dem Modell vorausgesetzt wurde, denn wie genau ein 12Jähriger sich selbst portraitieren kann, das wusste der Kunstlehrer wohl schon, insofern waren da die Maßstäbe nicht allzu hoch. Simons eigener Maßstab bezgl. seiner Flugzeugskizzen war sehr viel höher, als der Maßstab seines Kunstlehrers. Die Aufgabe, ein Flugzeug in allen Ansichten zu skizzieren war eine wirklich schwierige, aber sie war eben selbst gestelltund nicht verordnet. Und das gab ihm die Kraft dran zu bleiben, bis er zufrieden war.
Für mich stellt sich nun immer wieder die Frage: wie vermittele ich die zu erledigenden Dinge und Aufgaben so, dass sie Anreize bieten und bestenfalls als etwas Eigenes, selbst Gewähltes angenommen werden? Spannende Aufgabe, aber in jedem Fall lohnend, denn wenn es gelingt, dass das Kind, das, was es lernen soll, auch gerne und von innen her lernen möchte, dann ist es ein umfassendes 100% Lernen, begleitet von unermüdlichen, freudigen Wiederholungen.
Wie kann noch erreicht werden, dass sie das Notwendige tun, gleichzeitig aber Freude daran haben und die Lust nicht verlieren? Ich bin noch auf der Suche…. aber einiges hat sich bis jetzt als hilfreich erwiesen:
Bezüge zum Alltag herstellen ist sehr wirksam. Gespräche bei Tisch oder außerhalb der Schule bieten sich an, um Gelerntes aus der Isolation zu holen. Das abstrakte Schulwissen lebendig im Leben der Kinder werden lassen. Nicht nachlassendes Interesse der Eltern für den Schulstoff sind m.E. die wichtigsten Maßnahmen, um auch das Interesse der Kinder aufrecht zu erhalten. Wo die alltägliche Auseinandersetzung und mögliche Anwendung des Schulstoffes nicht stattfindet, bleibt es ein isoliertes, nicht begriffenes Wissen, welches sich irgendwann als nicht vorhandenes Wissen entpuppen wird.
Ich stelle immer wieder erleichtert fest, dass die Kinder selber am besten wissen, wie sie lernen möchten und können. Und während ich sie begleite, begreife ich ganz allmählich, was in ihnen vorgeht, was wichtig ist zum Lernen und was auf keinen Fall fehlen darf. Z.B. ich oder eine andere Person als Lernhilfe. Sie sind ruhiger, entspannter, wenn jemand daneben sitzt und liest oder einfach mit Raum ist. Stichwort Zuwendung.(Wenn du mich brauchst, bin ich da)Ohne Kontrolle, ohne Mitarbeit, einfach nur da sein.
Dieser Spagat, wie großes Weltwissen und profunde Schulbildung mit Lust und Freude einhergehen können, ist zur Zeit unser großes Thema. Mal schlägt das Pendel zugunsten von Spaß und freiem Lernen, mal muss ich Strukturen vorgeben und sagen: so und so machen wir es heute und bis dann und dann seid ihr fertig.
Weltweit gibt es viele „freie Schulen“, aber auch sie kommen nicht ohne strukturiertes Arbeiten und inhaltliche Vorgaben aus, wenn die Schüler tatsächlich Abschlüsse machen sollen. Zwar bieten die meisten –zig Materialien an, freie Entwicklungsräume, keine Stundenpläne, keine Vorgaben, was man wann können muss, ohne Tests, ohne Druck, aber: höhere Schulabschlüsse oder gar Befähigungen, um an einer Uni zu studieren, kann man an solchen Schulen nicht erwerben. Es gibt Schulen, die mit „Democratic Education“ werben, nach dem Motto: ich bestimme, was in meinen Kopf reinkommt, ich lerne, was ich will. Möglicherweise bieten solche Modelle für eine gewisse Zeit einen Flucht- oder Schonraum, um den Spaß der Schüler an Schule zu erhalten, aber ich bin mir sehr sicher, dass es auf Kosten des Wissens und der Bildung geschieht und dass die Schüler sich demokratisch gegen höheres Wissen, gegen neue Sprachen und gegen komplexere und kompliziertere Inhalte entscheiden werden. Einfach weil es doch anstrengend ist.
Systematische Wiederholungen, durch äußere Strukturen gestützt, sind etwas sehr Gesundes und Schönes. Wiederholungen sind Rituale und haben eine stabilisierende Wirkung. Ohne ständige Wiederholung kann man sich nichts aneignen. Auch Auswendiglernen hat eine enorm beruhigende Wirkung, ist wie ein „Schonraum“ und könnte geradezu Wunder wirken in dem Trommelfeuer der mikroelektronischen Reizkultur unserer Städte.
Doch gerade Wiederholung, Konzentration und besonders Auswendiglernen fällt heutigen Kindern sehr schwer, wir leiden ja alle an einer konzentrierten Zerstreuung und die Kinder sind, noch mehr als die Erwachsenen zwanghaft damit beschäftigt, sich zu zerstreuen. Sei es im Freundeskreis per Spielen auf dem Handy, sei es vor dem Bildschirm. Immer neue Reize schreien „Achtung!“, „Wichtig!“ und die Konsumenten werden ihrer Fähigkeit beraubt, bei einer Sache zu bleiben, die nichtständig kleine schockartige Stimulationen sendet.
Ich sehe für uns persönlich, dass wir einer Vielzahl von Reizen entflohen sind und Simon und Hanna dadurch etwas zurück versetzt wurden in eine Zeit vor der medialen Streuung, als die Menschen noch Gedichte auswendig lernten, sich stundenlang auf eine einzige Tätigkeit konzentrierten, sich noch auf einfache Dinge freuten.
Nach nunmehr zwei Jahren Auszeit und vielen Mühen des Neuanfangs, der Eingewöhnung, des Kampfes mit Behörden, des Bauens…. bin ich reichlich entschädigt und sehr überrascht worden, durch der Kinder eigene Sicht: als Simon sagte, sein Hobby sei „Schule machen“. Was könnte überzeugender sein, dass sich alles gelohnt hat? Und kürzlich, da erwartete er sein Schulpaket für die nächste Klasse. Ich wünschte, ihr hättet seine Aufregung gesehen, als das Paket nicht kommen wollte. Täglich blickte er zum Tor, ob das gelbe Postauto ankam und nach Tagen des Wartens, fing er an, Bäume zu fällen, um sich zu beruhigen. Als es dann schließlich mit einer Woche Verspätung ankam, öffnete er es so freudig und ehrfürchtig, wie ich ihn noch NIE seine Geburtstagpäckchen habe öffnen sehen.
Ich staune immer wieder über den erzieherischen Wert von guten Büchern. Bücher inspirieren das innere Kopfkino auf eine unvergleichliche, tiefe und nachhaltige Weise. Lesen kann soviel Gutes im Leben eines Kindes bewirken! Aber ich bin sehr kritisch, sehr bemüht und halte wirklich Augen und Ohren offen, nur damit es um wirklich gute Literatur geht. Bei jedem Buch fragen wir uns: welche Inhalte vermittelt es, welche Ziele verfolgt der Autor? Wenn man die Spannung, den Schreibstil mal außer Acht lässt, was bleibt dann übrig? Welche Botschaft erhält mein Kind?
Charakterbildende Bücherhaben einen enorm positiven, nicht zu überschätzenden Einfluss. Sie erreichen u.U. mehr, als ein halbes Jahr „Erziehung“. Gerade bei Hanna habe ich den wohltuenden Einfluss von guten Büchern sehr bemerkt. Sie liest und liest und wird unmerklich so zum Guten „verführt“, dass ich zu bestimmten Themen plötzlich gar nichts mehr sagen musste. Ich bin überzeugt davon: Kinder brauchen positive Vorbilder, gerade in unserer vom Verfall der Werte betroffenen Welt. Sie brauchen Bücher, die ihnen zeigen, dass es sich lohnt ehrlich, fleißig, mutig und gerade heraus zu sein. Dass man einen Glauben haben sollte, der über den Tod hinausgeht. Dass Fehler zum Leben dazu gehören, dass man aber auch viel daraus lernen kann. Dass Verzicht oft ein Gewinn ist und dass Reichtum, Karriere und Aussehen keine verlässlichen Lebensziele sind. Und mehr als alles andere brauchen Kinder und Heranwachsende Visionen, was aus ihrem Leben einmal werden könnte, was sie einmal erreichen möchten, wo sie Anderen von Nutzen sein könnten und welchen Sinn ihr Leben haben soll. Sie brauchen Visionen und Vorstellungen, die ihnen im Alltag echte Lebenshilfe und Lebensziele bieten.
Wie viel bieten davon Fantasy-, Vampir-, Zauber-, und Hexenlektüren, die derzeit den Markt und die Kinderzimmer überschwemmen? Viel Spannung ja, weit mehr, als die meisten Kinder vertragen, aber wichtige Wegweiser, Vorbilder, Anhaltspunkte, Lebensziele? Doch scheint die Angst, dass heutige Schüler nicht mehr lesen, so groß, dass man als Lehrer und Eltern manchmal jeden Schmarren in Kauf nimmt, „nur damit sie lesen“.
Ich frage mich oft, wo bleiben gute Biografien für Kinder? Es ist doch nichts so beeindruckend, wie eine echte und wahre Geschichte. Ich suchte nach guten Büchern und wurde hier und da fündig: Lebensgeschichten von Helen Keller, dem kleinen Mädchen, das blind und taubstumm sein Leben so meisterte, dass es schließlich eine berühmte Schriftstellerin wurde. John Newton, der ehemalige Sklavenhändler, der eine solche Wandlung erfuhr, dass er das berühmte Lied „Amazing Grace“ dichtete. Georg Müller, der Waisenhausgründer aus England. Das Ehepaar Booth, die gegen enorme Widerstände die „Salvation Army“ gründeten. Nick Vujicic, der Junge, der ohne Arme und Beine geboren wurde, als 12Jähriger so verzweifelt war, dass er sich umbringen wollte und heute höchst witzige Motivationsseminare hält. Bethany Hamilton, das 14jährige Mädchen aus Hawaii, auf dem Weg zur Surf-Karriere, die von einem Hai angefallen wird und ihren rechten Arm verliert, aber nicht ihren Mut. Ben Carson, der afro-amerikanische Junge, der in den Slums unter schlimmsten Bedingungen aufwächst und fast zum Mörder geworden wäre, doch durch Umdenken und Disziplin seinem Leben doch noch einen Sinn gab – heute ist er einer der weltweit führenden Neurochirurgen. Das Leben dieser Menschen ist oft gar nicht so weit weg von dem Leben eines ganz normalen Menschen. Denn auch sie haben und hatten ihre täglichen Anforderungen, Rückschläge und Kämpfe. Das Wichtigste ist nur, dass sie eine Visionhatten. Und dass sie sich nicht entmutigen ließen und entschlossen waren, ihr Leben so sinnvoll wie möglich zu nutzen. Und Kinder sind bereit für Visionen! Sie sind so offen für positive Vorbilder, sie lassen sich leicht zum Guten verführen und sie lieben es, wenn man sich für ihre Gedanken, ihre Wünsche und ihre Zukunft interessiert.
Ein weiser Umgang mit Büchern und ein kritischer Blick auf den Markt bewirkt viel Gutes.
Nun wünsche ich euch eine schöne Sommerzeit, die besten Bücher und für die nächsten Wochen Gottes schöne, warme Sonne!
Alles Liebe,
Eva